Dissertationsprojekt von Janine Tornow-Gaisbauer

Generation Ars Poetica: Junge Misrachim in Israel und die Bedeutung ihrer kulturellen Wurzeln


120 Jahre nach dem ersten Zionistenkongress in Basel ist der Traum von einem jüdischen Staat, einer Heimstätte für alle in der Diaspora verstreuten Juden längst Wirklichkeit geworden. Israels tiefe Verbindung zur Einwanderung und dem «Ingathering of the Exiles» wurde nicht nur in dessen Unabhängigkeitserklärung deutlich, sondern wurde auch 1950 im Rückkehrergesetz rechtskräftig verankert. Bis zur Staatsgründung Israels bestand die jüdische Bevölkerung fast ausschliesslich aus Einwanderern aus Mittel- und Osteuropa, den Aschkenasim, die den jungen Staat nach europäischem und zionistischem Vorbild formten. Als nach 1948 die aus den muslimischen Ländern des Mittleren Ostens stammenden Misrachim einwanderten, wurden sie aufgrund ihrer «orientalischen» und «primitiven» Herkunft von der aschkenasischen Mehrheitsgesellschaft abgelehnt. Durch diese ethnische Problematik entstand eine innergesellschaftliche Kluft zwischen Aschkenasim und Misrachim, die durch eine deutlich negativ konnotierte Stereotypisierung gegenüber Letzteren geprägt war und zu ethnisch motiviertem Protest führte (Aufstand in Wadi Salib, 1959, und Bewegung der Schwarzen Panther, 1971–72). Schon dabei war eine Veränderung im Selbstbewusstsein von der ersten Generation der EinwanderInnen zur zweiten Generation der als Kind Eingewanderten oder bereits in Israel Geborenen zu beobachten.

Das vorliegende Dissertationsprojekt richtet nun seinen Blick auf die dritte Generation der Misrachim und fragt nach der Bedeutung ihrer kulturellen Wurzeln, für sie selbst und in der Gesellschaft. Dabei liegt das Hauptaugenmerk auf fünf ausgewählten misrachischen DichterInnen sowie der Veranstaltungsreihe Ars Poetica, die sich als Lyriklesung in einem misrachisch-kulturellen Umfeld versteht. Die Recherche hat gezeigt, dass dieses Thema und die dazugehörigen Fragen entgegen der politischzionistischen Bestrebung mehr denn je in verschiedensten Bereichen der israelischen Gesellschaft von hoher Relevanz sind und im Zentrum der israelischen Kulturdebatte angekommen sind. In besonderem Masse spielt hierbei auch die Lyrik und vor allem Ars Poetica eine wichtige Rolle, da die Dichtung dieser jungen Generation durch ihre starke Performanz und kraftvolle Stimme in Israel grosse Popularität erfährt. Dabei zeichnet sich schon durch die Namensgebung eine Auseinandersetzung mit der ethnisch-kulturellen mIdentität ab. Die Gründerin und Dichterin Adi Keissar spielt mit dem horazschen Begriff und nutzt ihn, um das abwertend für Misrachim verwendete Schimpfwort Ars (arab., hebr. Slang: jemand, der sich kriminell benimmt; eine ungebildete, vulgäre, rüde und prahlerische Person) zurückzuerobern und dieses neu und mit Selbstbewusstsein positiv zu besetzen. Die ausgewählten LyrikerInnen, die alle in Israel geboren, aufgewachsen und sozialisiert sind, sehen sich auch in der dritten Generation noch mit der Kluft zwischen Misrachim und Aschkenasim konfrontiert. Die Frage nach der sogenannten Misrachi-Identität bleibt also weiterhin relevant, dies obwohl interethnische Ehen geläufig sind und dazu beitragen sollten, die Grenzen zwischen Misrachim und Aschkenasim aufzulösen. Dieses Dissertationsprojekt verfolgt eine dezidiert interdisziplinäre Herangehensweise und verbindet literaturwissenschaftliche mit kulturwissenschaftlichen Fragestellungen. Für die Untersuchung der Forschungsfrage, die sich nicht von ihrem soziokulturellen und historischen Kontext trennen lässt, wird die Methode des New Historicism verwendet. Da aber auch einzelne Gedichte z.B. durch die Veranstaltung Ars Poetica in die Öffentlichkeit getragen und dort von den DichterInnen auf ihre eigene, spezifische Weise vorgetragen werden, soll der Performanz und dem sich dadurch eröffnenden weiteren Deutungsrahmen besondere Beachtung geschenkt werden.

Mein grosser Dank gilt an dieser Stelle der FAG Basel für die Förderung und somit auch Wertschätzung meines Forschungsbeitrages.

Janine Tornow-Gaisbauer