van Gogh

Ausdruck und Medialität in seiner Malerei


Maler wie Gustave Courbet, Édouard Manet, Georges Seurat und Paul Cézanne gelten als wichtige Modernisten: Ihre Werke werden von der Kunstgeschichte als reflexiv auf die Geschichte und die historischen Bedingungen der Malerei im 19. Jahrhundert interpretiert. Für Vincent van Gogh hingegen fehlt erstaunlicherweise eine vergleichbare Forschung. So als hätte die Popularität des Malers und die Bannkraft seiner mystifizierten Biographie den kritischen Blick auf sein Werk verstellt, wurde die kunsthistorische Bedeutung van Goghs bisher eher in der modernen Malerei des 20. Jahrhunderts situiert, die sich auf ihn als Vaterfigur berief, und für die er eine ungemeine Wirkmacht entfaltete.

Meine Doktorarbeit setzt dazu an, diese Lücke zu schliessen. Die zentrale künstlerische Herausforderung, die das Projekt in van Goghs Malerei reflektiert sieht, ist der zunehmende Druck ab der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts, für Malerinnen überzeugend als Vermittlerinnen von Ausdrucksgehalt in Malerei aufzutreten. Wie zeitgenössische Kritiken und Kommentare seit den 1860er-Jahren zeigen, war es in der Quadratur von Künstler, künstlerischem Medium, Darstellungsmotiv und Betrachter/innen immer unplausibler erschienen, Gemälde als authentischen Ausdruck eines Künstlers zu sehen. Das Ziel der Dissertation ist daher zu untersuchen, wie sich ausgerechnet van Gogh, der bis heute als Paradigma des expressiven Künstlers gilt, in den 1880er-Jahren mit dieser malerei- und mediengeschichtlichen Voraussetzung auseinandersetzte. Anhand einer umfangreichen Erforschung neuer Kontexte, die bisher nicht mit van Goghs Malerei verbunden wurden, nimmt die Dissertation das Verhältnis von Ausdruck und Medialität in seinem Werk in den Blick.

Durch meine Forschung erhält Ausdruck als historisches und ästhetisches Konzept, das Malerei als künstlerischen Medium nachhaltig prägte, in der Kunstgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts einen neuen Stellenwert. Bis anhin wurde die Krise des künstlerischen Ausdrucks als ein Phänomen des 20. Jahrhunderts behandelt. Meine Relektüre van Goghs macht die Entfaltung und die Auswirkungen einer solchen Krise auf die Entwicklung der modernen Kunst bereits im 19. Jahrhundert sichtbar. Statt die Blütezeit des Ausdrucks zwischen dem deutschen Expressionismus des frühen 20. Jahrhunderts und dem abstrakten Expressionismus der Jahrhundertmitte aufzuspannen, werden diese Kunstströmungen als eine zweite Welle der künstlerischen Auseinandersetzung mit Ausdruck eingeordnet.

Daran schliesst eine weitere Bedeutung des Projekts an, die van Gogh als kulturelles anstatt als kunsthistorisches Phänomen betrifft. van Goghs Popularität wird oft als ein Aspekt seines kulturellen Nachlebens aufgefasst, der seinem Werk eigentlich fremd ist und auf Missverständnissen beruht. Die Dissertation hingegen zeigt, dass van Goghs eigene intensive Rezeption von Druckgraphiken und Künstlerbiographien nicht nur seine Vorstellungen von Expressivität prägte. Ihre Verwendung wird aus heutiger Sicht vielmehr als strukturelle Vorwegnahme seiner eigenen Popularität lesbar, sodass mein Projekt diese nicht als arbiträres Nachleben, sondern als historisch fundiertes Phänomen aufweisen kann.

Dissertationsprojekt von David Misteli