Ausgegossene Reden

Ausgegossene Reden. Geschwätz und seine Grenzen in der frühmodernen Eidgenossenschaft


An einem Abend im Juni 1692 fanden sich ein katholischer Krämer aus Savoyen und ein protestantischer Reisender aus Nürnberg an einem gemeinsamen Tisch im Gasthaus ‹Zum Schwert› in Zürich zu einem abendlichen Umtrunk. Die beiden begannen über die neuesten Nachrichten im Pfälzischen Erbfolgekrieg zu sprechen, der zu jener Zeit ganz Europa erschütterte, bis sie schliesslich auf das Thema der Religion und der verschiedenen Konfession zu sprechen kamen. Hier verschlechterte sich der Ton zwischen den beiden rapide, bis der Savoyer den Nürnberger als Ketzer beschimpfte, und dafür einen Schlag ins Gesicht kassierte. Beide Gäste wurden daraufhin zwei Tage in Arrest gesetzt, und vom Zürcher Rat mit einer Busse aus dem Land gewiesen.

Streitigkeiten dieser Art waren keine Seltenheit in der frühmodernen Eidgenossenschaft. In Gerichtsurkunden des 16., 17. und 18. Jahrhunderts finden wir solche Gespräche tituliert als ‹gefährliche›, ‹schimpfliche›, ‹unzimende› oder ‹ungeschickte›, oder eben ‹ausgegossene› Reden wieder. Unter diesen Bezeichnungen finden wir Vorfälle, in denen nicht nur einzelne Individuen beleidigt, sondern ganze Gemeinwesen, ob nun politisch oder religiös begründet, verbal herabgesetzt wurden. Zwischen 1580 und 1720 finden sich ungefähr 600 solcher Vorfälle allein in den Gerichtsakten der Obrigkeiten der eidgenössischen Stadtstaaten Zürich und Luzern. Diese Gerichtsakten stehen im Zentrum meines Dissertationsprojekts.

‹Ausgegossene Reden› bieten einen faszinierenden Einblick in die Streitkultur der frühmodernen Eidgenossenschaft. Viele dieser Fälle drehen sich um konfessionelle Auseinandersetzungen, und erlauben so, unser Bild vom alltäglichen Zusammenleben im Zeitalter des Konfessionskonfliktes um eine wichtige Facette zu ergänzen. Wie interagierten Anhänger verschiedener Konfessionen in solch alltäglichen Treffpunkten wie dem Wirtshaus, dem Marktplatz oder dem Badehaus miteinander? Wie kamen in solchen Situationen konfessionelle Gegensätze zur Sprache? In den Luzerner und Zürcher Akten bietet sich hier ein Bild, in dem konfessionelle Gegensätze zwar stets akutes Konfliktpotenzial beinhalteten, aber auch zum Gegenstand gemeinsamer Erheiterung und Unterhaltung werden konnten.

Konfessionelle Streitpunkte vermischten sich oft mit politischen Machtfragen. Die Rede von einer ‹verkehrten Welt›, in der die Beherrschten zu den Herrschenden würden, war nicht nur während grosser Widerstandsbewegungen wie dem Bauernkrieg von 1653 gängig, sondern stellte, in drohender wie spottender Form, einen Teil alltäglicher Rede dar. Ebenso bieten auch die in diesen Akten geschilderten Gerichtsprozessdynamiken selbst Einblick in das Verhältnis zwischen Regierenden und Regierten. Erscheinen Gerichtsprozesse über ‹ausgegossene Reden› zunächst wie ‹von oben› oktroyierte Disziplinierungsversuche, werden bei einem genaueren Blick die vielen alternativen Konfliktlösungsprozesse sichtbar, mittels derer lokale Gemeinschaften sich über ihre Sprechnormen verständigten. Die Erforschung politischen und konfessionellen Alltagsstreits ermöglicht so, die Forschungsfelder des konfessionellen Konflikts und der frühmodernen politischen Öffentlichkeit in einer auf lokale Vergemeinschaftungs- und Abgrenzungsprozesse fokussierten Perspektive zusammenzuführen.

Markus Bardenheuer